Ich bin heute morgen, um 3:23 Uhr aufgewacht und hatte plötzlich einen völlig neuen Gedanken:
Was, wenn es zwei Michaels in mir gäbe. Einen „alten“, der festgelegt ist durch seine Eltern, seine Erziehung, die Schule und seinen so genannten Lebenslauf. Er musste sich beweisen, er wurde begrenzt durch das, was Prüfungen, Lehrer und Ausbilder von ihm sagten und ist quasi stehen geblieben bei dem, was andere von ihm bezeugt haben.
Der andere Michael ist weiter gewachsen. Er hat sich weiter entwickelt und seine Sehnsucht nach Anerkennung hat ihn dazu getrieben, sich zu vervollkommnen. Diese Vervollkommnung wurde aber bisher nie nachgewiesen, konnte sich nie beweisen, weil keiner da war, der ihm dazu die Möglichkeit gab und ihn in diesen Bemühungen ernst genommen hätte.
Es könnte sogar sein, dass diese Person nicht männlich, sondern weiblich ist und von da her schon von der äußerlichen Erscheinung her angezweifelt würde, würde sie sich in ihrer vollen Größe
offenbaren. Ja, Scham vor Spott und Hohn würde verhindern, dass diese Person jemals nach außen in Erscheinung träte!
So lebt sie ein Schattenleben im Innern eines Mannes, der sich gleichsam gar nicht als Mann fühlt.
Warum? Nun, ich bin auf mein „Mann-sein“ gar nicht so stolz! Alle negativen Eigenschaften, welche ‚mensch’ einem Mann nachweisen könnte, habe ich ja an mir selbst entdeckt und habe versucht, sie zu verändern. Verändern, so sagt Anselm Grün, ein kaufmännischer Leiter der Abtei Münsterschwarzach, ist etwas, was mit Gewalt geschieht. Er zieht es vor, den Lauf der Dinge mit dem Willen Gottes gleichzusetzen und diesen Lauf mit „Verwandlung“ zu bezeichnen. Alles, was Gott berührt, wird verwandelt.
So verstehe ich mich als ein zweigeschlechtliches Wesen, das die Fähigkeiten der weiblichen Seite in sich vervollkommnet hat, weil das Gesicht des Mannes in dieser Welt an Bedeutung verloren hat.
Er, der Mann, ein Macho, der Kriege führt. Ein Pascha, der Befehle gibt und die Partnerin wechselt, wenn sie ihm in irgendeiner Weise nicht mehr nützlich erscheint; zu alt geworden, zu gewöhnlich, verbraucht, oder einfach seine Langeweile, seinen unbändigen Hunger nach Neuem nicht mehr stillen kann.
Das ist ein Mann, der keine Treue mehr kennt und keine eigene Spiritualität, also auch keine eigene Mitte mehr besitzt. Dabei spürt er ganz deutlich, dass ihm das alles fehlt. Aber, da er Geld verdienen muss und für sein Prestige sorgen muss, bleibt ihm gar keine Zeit für die Pflege seiner inneren Werte. Es sei denn, er hätte eine Position erreicht, die es ihm ermöglicht, dafür genügend Zeit zu erübrigen und Geld zu haben, diese Seelenposition zu pflegen.
Doch wie sollen seine inneren Werte wachsen können, ohne dass es im Außen dazu die richtigen Vorbilder gäbe, nach welchen Mustern er sich orientieren könnte?
Es hat lange Zeit gebraucht, bis ich die zu mir passenden Charaktere in der Realität gefunden habe!
Meine im Innern angelegten Begabungen liegen auf so verschiedenen Gebieten, wie zum Beispiel die eines Sängers und eines Mathematikers. Selten findet ‚mensch’ solche Begabungen in einem einzigen Menschen vertreten. Und dennoch braucht ‚mensch’ heutzutage beide – den einen als Computerspezialisten und Kybernetiker, den anderen als Künstler und kreativ schaffenden Menschen. Die Entwicklung setzt sich in beide Richtungen fort und die Gesellschaft „belohnt“ nur ausgezeichnete Leistungen entweder in der Besonderheit eines Zieles, oder in dem Durchhaltevermögen, welches benötigt wird, bis sich ein Erfolg einstellt, oder in beidem. Nur herausragende Leistungen finden Beachtung und Anerkennung, während das Alltägliche in Bedeutungslosigkeit verschwindet, obwohl das in Wirklichkeit die eigentliche Leistung darstellt, ohne welche ein kontinuierliches Leben gar nicht vorstellbar wäre. Der zweite Mensch lebt in einer Traumwelt, wird nachts wach und bekommt dort all das zugesprochen, was er am Tage niemals erreichen wird, ja beanspruchen darf. In dieser Welt ist er der Held, er der Große und der völlig Andere, der er am Tage nie sein darf.
Der Computer nun hat es möglich gemacht, gewisse „Handycaps“ zu überwinden. Wer nicht gut zeichnen kann, der bedient sich eines Grafikprogrammes. Wer sich Dinge schlecht merken kann, der bedient sich einer Datenbank. Wer nie gut in Mathematik war, der kann sich mit Rechenprogrammen helfen, welche von Menschen entwickelt worden sind, die das alles besser können und dem Computer beigebracht haben, wie das durch einfachen Tastendruck, oder Mausklick – ohne eigene Gehirnleistung - gemacht werden kann. So werden wir alle ein Stück weit auf die gleiche Ebene gehoben, obwohl eigentlich die Fähigkeiten dazu fehlen. Das Team erledigt das. Und der Computer verbindet uns miteinander. Werden wir dadurch austauschbar? Verlieren wir in einer Anonymität der virtuellen Welten des Computers die eigene Identität?
Wer sind wir noch – ohne unsere PC`s und Laptops, I-Pod`s usw.?
Dazu kommt, dass diese „dritte Welt“, welche da geschaffen worden ist, Zeit braucht, Zeit der Präsenz. Nur, wer in dieser Welt auch „on-line“ ist, wird dort auch wahrgenommen.
Aber: fehlt die Zeit nicht, um mit seinen Kindern zu spielen, die Frau zu lieben und einen Baum zu umarmen und das Gras unter nackten Füßen spüren zu können?
Ich ging davon aus, dass sich in mir eine völlig neue Person heranbildet. Das ganz andere Wesen. Eigentlich, um mit Anselm Grün zu sprechen, das Wesen, oder das Bild, das Gott sich von mir gemacht hat. Und das scheint ein völlig anderes zu sein, als die Person, welche ich gekannt habe.
In Michael Ende`s Buch „Die unendliche Geschichte“ wird dieser Vorgang beschrieben, wie ein Schulkind ein Buch in die Hände bekommt, in welchem von dieser anderen Person eine Geschichte erzählt wird und wie sich über dieses Buch ein Austausch zwischen diesen beiden entwickelt. In dem Moment, wo der lesende Junge die zentrale Person rettet, dadurch, dass er ihr einen neuen Namen gibt, entsteht sein eigenes "Phantasien", worin er selbst der Held und Diener dieser inneren, zentralen Person ist.
Michael Ende nennt sie „die kindliche Kaiserin“ – eine Seelenfigur. Sie besitzt die Macht in diesem Phantasieland, ist aber angewiesen auf Menschen, die von ihr träumen, sich in ihrem Land aufhalten.
Die Realität und die Traumwelt miteinander zu verbinden, dieser Traum, scheint sich in dieser „dritten Welt“, der Computerwelt, zu erfüllen. Doch, was ist geschehen? Ich sitze hier vor meinem Computer! Anstatt dass ich schlafe und in meinen Träumen das Leben lebe, was ich in der Realität nie erreichen konnte, sitze ich wach und mache mir einen Kopf darüber, was besser wäre, oder was hätte sein können. Dabei gibt es doch nur eine Realität, oder? Ich kann weder die Vergangenheit verändern, noch kann ich die Zukunft in solche Bahnen lenken, dass ein vorhersehbares Schicksal entsteht. Und was wäre das auch für eine Zukunft, die mir schon bekannt wäre, weil ich sie vorausberechnet habe, oder wie ein Band eines Rekorders noch einmal zurückgespult und neu bespielt hätte? Was ist Leben überhaupt? Woran erkenne ich die Qualität meines Lebens?
Ich werde mich jetzt, um 5:00 Uhr morgens wieder schlafen legen und vielleicht träume ich noch etwas darüber, wie ein würdiges, gelingendes Leben aussehen könnte…